Elam

Elam

Thursday, 20. September 2018 von Henriette

Heute Morgen riss mich in aller Herrgottsfrühe das Klingeln meines Mobiltelefons aus dem Schlaf. »Mademoiselle Künrad«, tönte es aufgeregt am anderen Ende der Leitung. Es war Mme Navarre. »Ziehen sie sich etwas an und kommen Sie zu Betmar! Er hat den Text entschlüsselt.«

»Was? Aber wie …« fragte ich noch, aber sie hatte bereits wieder aufgelegt. Ich sprang schnell unter die Dusche und trank einen dünnen Kaffee an der Hotelbar. Dann eilte ich mit einem Kribbeln im Bauch zur Métro.

Betmar trug wieder seinen Morgenmantel, Mme Navarre war bereits da und kochte Tee. »Elamisch.« Betmar breitete die Arme aus wie ein Zauberkünstler, der gerade eine Jungfrau zersägt hat, dann setzte er sich an den Tisch. »Der Text ist Elamisch. Ich war ein Idiot, dass ich darauf nicht gleich gekommen bin!«

»Wie haben Sie das herausgefunden?«

»Das antike Reich von Elam lag östlich von Mesopotamien im heutigen Iran. Die Sprache der Elamiter ist mit keiner anderen Sprache des alten Orients verwandt, sie ist weder sumerisch noch semitisch noch indoeuropäisch. Es gibt aber Hinweise, wonach das Elamische mit den drawidischen Sprachen der Urbevölkerung Indiens verwandt ist — also auch mit der Sprache der Industal-Kultur. Während jedoch die Sprache der Industal-Kultur bereits vor über dreitausend Jahren ausstarb, wurde das Elamische noch bis in die nachchristliche Zeit hinein gesprochen. Es wäre also gar nicht so abwegig, für die elamische Sprache die Zeichen der Indus-Schrift zu verwenden. Also habe ich mich heute Nacht auf meinen Hosenboden gesetzt und es versucht …«

»Nun machen Sie es nicht so spannend«, sagte ich ungeduldig. »Was steht denn drin?«

»Ich habe bisher natürlich nur Bruchstücke übersetzt. Aber was ich gesehen habe, ist nicht weniger als eine Sensation. Es geht um Eden, also den Garten Eden aus der Bibel, und die Sintflut. Aber die Geschichte wird — wie soll ich sagen — völlig anders erzählt. Und es geht um das Schicksal eines urzeitlichen Volkes. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Aber lesen Sie selbst …« Er schob mir einen Stoß handgeschriebener Blätter über den Tisch.

»Das haben Sie alles in einer Nacht geschafft?« staunte ich. Dann begann ich zu lesen.

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