Nogaret

Nogaret

Friday, 21. September 2018 von Henriette

Wieder weckte mich heute mein Mobiltelefon. Diesmal war es nicht Mme Navarre. »Allô? Spreche ich mit Mademoiselle Künrad?« sagte eine schroffe Männerstimme am anderen Ende. »Hier ist Lieutenant Nogaret, Justizpolizei. Melden Sie sich bitte umgehend im Commissariat du 5e arrondissement, Rue de la Montagne Sainte-Geneviève. Ich hätte ein paar Fragen an Sie.«

»Worum geht es denn?« wollte ich wissen.

»Das kann ich Ihnen am Telefon nicht sagen. Bitte kommen Sie, so schnell Sie können.«

Mit einem Schlag war ich hellwach. Das Kommissariat lag im Quartier Latin, wo Betmar wohnte. Was könnte dort …? Unterwegs zur Métro spielte ich mit dem Gedanken, Mme Navarre anzurufen und sie zu fragen, was passiert sei. Doch ich wollte sie auch nicht unnötig beunruhigen, und so ließ ich es sein.

Das Polizeirevier befand sich in einer tristen Seitenstraße des Boulevard Saint-Germain in einem freistehenden, quaderförmigen Betonbau. Nach kurzer Wartezeit führte mich ein junger Gardien de la Paix ins Büro des Lieutenants.

Lieutenant Nogaret war ein kleiner, hagerer Mann mit feucht glänzenden Tränensäcken unter schmalen Augenschlitzen, durch die er mich eingehend musterte. Zwischen seinen schwarz gefärbten, glatt zurückgebürsteten Haarsträhnen blitzten bereits zahlreiche kahle Stellen hervor. »Bonjour, Mademoiselle, setzen Sie sich bitte. Es geht um Professor Betmar, den Philologen. Sie kennen ihn?«

»Ich … ja.« Ich fühlte mein Herz schneller schlagen.

»Er ist verschwunden«, sagte er. »Wir gehen von einer Entführung aus.«

Ich spürte, wie sich meine Kehle zusammenschnürte. »Aber wer …« stammelte ich.

»Bitte beantworten Sie nur meine Fragen. Wo waren Sie letzte Nacht zwischen zwei und drei Uhr?«

»Ich weiß nicht, ich … Im Morvarid, einer Jazzbar hier ganz in der Nähe. Oder vielleicht auch schon auf dem Nachhauseweg. Ich weiß es nicht mehr genau. Wir hatten etwas getrunken und …«

»Mit wem waren Sie in der Bar?«

»Nicholas de Montmorency. Er ist ein alter Freund. Und Taraneh, die Besitzerin der Bar. Ich kenne nur ihren Vornamen, ich habe sie erst gestern Abend kennengelernt.«

»Soso, Tara«, murmelte er und spielte dabei mit seinem Kugelschreiber. »Und danach?«

»Danach habe ich ein Taxi zurück ins Hotel genommen.«

»Sie sind von der Bar direkt ins Hotel gefahren?«

»Ja. Das kann doch bestimmt der Taxifahrer bestätigen.«

»Und Sie wissen nicht mehr, um welche Uhrzeit das war?«

»Nicht mehr genau. Vielleicht so gegen zwei?«

»Hat Sie jemand vom Hotelpersonal gesehen?«

»Nein, ich trage den Schlüssel immer bei mir, und an der Rezeption war niemand.«

»Sie haben die letzten beiden Tage jeweils mehrere Stunden bei Monsieur Betmar verbracht. Worum ging es bei diesen Besuchen?«

Woher wusste er das? Ich erzählte ihm in kurzen Worten, was seit meiner Ankunft in Paris geschehen war, von meinem Auftrag im Louvre, von Mme Navarre und dem Kodex.

»Wieviel ist der alte Schinken denn wert?«

»Das lässt sich kaum abschätzen. Mittlerweile glaube ich, ziemlich viel. Glauben Sie denn, die Entführung könnte damit zusammenhängen? Aber Betmar war nie im Besitz des Buchs! Es lagert sicher im Archiv des Museums.«

»Nein, Mademoiselle, dort ist es nicht mehr. Es wurde heute Nacht gestohlen.«

»Was? Das Buch ist weg? Aber wie konnte das passieren?«

»Wir gehen davon aus, dass die Täter einen Komplizen unter den Museumsangestellten hatten.«

»Sie verdächtigen doch nicht etwa Mme Navarre! Sie hätte das Buch nicht zu stehlen brauchen, sie hatte jederzeit freien Zugang zu dem Raum, sie …«

»Schon gut, schon gut. Wir verdächtigen sie nicht«, unterbrach er mich.

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