Lapis exillis

Lapis exillis

Wednesday, 19. September 2018 von Henriette

Ich war überrascht, wie bereitwillig Karnberg mir gestern einen verlängerten Aufenthalt in Paris gewährt hatte. Ich hatte mich bei meinem Anruf auf eine längere Diskussion mit ihm eingestellt, doch er schien die Frage bereits erwartet zu haben und sagte mir spontan fünf weitere Tage zu. »Es kann uns ja nur recht sein, wenn uns die Franzosen die Arbeit abnehmen«, hatte er noch hinzugefügt.

Nach einem vorzüglichen Frühstück in Cathérines Bistro an der Place Dauphine machte ich mich mit Mme Navarre auf zu einem gewissen Monsieur Betmar, der uns vielleicht mehr über die unbekannten Zeichen würde sagen können. Er war ein pensionierter Philologe, der eine kleine Mansarde im Quartier Latin in der Nähe des Jardin du Luxembourg bewohnte. Er erwartete uns im Morgenmantel in der Tür, als wir etwas außer Atem das oberste Stockwerk erreicht hatten. Betmar war ein Gentleman alter Schule, der in jüngeren Jahren äußerst gutaussehend gewesen sein musste. Er begrüßte uns beide mit einem Wangenkuss, der nach Tabak roch. »Ah, salut Véro«, und zu mir: »Enchanté.«

Die Mansarde bestand hauptsächlich aus einem einzigen großen Raum, in dessen Mitte ein etwas überdimensionierter Esstisch aus massivem Mahagoni stand, den Betmar offensichtlich auch zum Arbeiten benutzte; er war übersät mit Büchern und Papieren. Die hohen Fenster boten eine beeindruckende Aussicht über die Dächer von Paris.

Der Professor servierte Kaffee, dann setzten wir uns an den Tisch, und ich überreichte ihm die Mappe mit den Fotografien der Buchseiten, die ich von Karnberg bekommen hatte. Er holte ein Vergrößerungsglas hervor und betrachtete damit zunächst den aramäischen Einführungstext, den Mme Navarre bereits übersetzt hatte. »Ein Kloster in den syrischen Bergen, in dem Frauen und Männer gemeinsam leben«, sagte er schließlich, »eine wundertätige Schale, die denjenigen Heilung bringt, die daraus trinken, und ein Mönch, der seinen Glauben verloren hat. Allein das ist bereits äußerst bemerkenswert.«

»Ein Gefäß, das Kranke heilt — für mich hört sich das an wie die Geschichten vom Heiligen Gral«, sagte ich eher beiläufig.

Betmar sah mich an. »Sie haben recht, Mademoiselle, das ist ganz erstaunlich! In dem Text wird die Schale Kelch des Exils genannt. In der mittelalterlichen Dichtung wird der Gral als lapis exillis, ›Stein des Exils‹, bezeichnet.« Er stand auf und suchte in seinem Bücherregal ein kleines Bändchen heraus. »Parzival von Wolfram von Eschenbach. Eine der wunderbarsten Erzählungen des Mittelalters! Hier, sehen Sie«, sagte er und zeigte mir eine Textstelle.

hât ir des niht erkennet, / der wirt iu hie genennet. / er heizet lapis exillîs. / von des steines kraft der fênîs / verbrinnet, daz er zaschen wirt.?

»Der Mönch berichtet weiter, dass am Rand der Schale ›Worte in der heiligen Sprache Adams‹ geschrieben stehen. Auch bei Wolfram erscheinen am Rand des Grals zuzeiten geheimnisvolle Schriftzeichen.«

zende an des steines drum / von karacten ein epitafum / sagt sînen namen und sînen art, / swer dar tuon sol die sælden vart.?

»Wie das Wüstenkloster ist auch die Gralsburg im Parzival ein verborgener, entrückter Ort und kann nur von jenen gefunden werden, die dazu auserkoren sind. Wolfram, der fremdsprachige Namen so schrieb, wie er sie aussprach, nennt sie Munsalvæsche. Das kommt vom okzitanischen mont salvatge und bedeutet ›Berg des Heils‹. Das verborgene Kloster heißt auf Aramäisch Tur-Qadash, was ebenfalls ›Berg des Heils‹ bedeutet. Kann das alles Zufall sein?« Betmar war sichtlich aus dem Häuschen. »Oder haben wir hier den Ursprung der Legenden vom Heiligen Gral gefunden? Wir müssen unbedingt den restlichen Text entziffern!«

»Restlich ist gut«, sagte ich. »Das ist fast das ganze Buch!«

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