Tur-Qadash

Tur-Qadash

Tuesday, 14. August 0407 von Basileios von Edessa

Es war im letzten Jahr der Herrschaft des Kaisers Flavius Valens, da erreichte mich, Basileios, Presbyter von Edessa, der Ruf meiner Glaubensbrüder, mich nach Antiochia nahe der Kilikischen See zu begeben, um einem Konzil mit Gesandten der arianischen Irrlehre beizuwohnen. Diese Schüler des Häretikers aus der Kyrenaika behaupten, den Schriften des Origenes Adamantios folgend, dass der in unserem HERRN Jesus fleischgewordene Logos nicht wesensgleich mit dem allmächtigen GOTT, sondern diesem untergeordnet und daher kein wahrer Gott sei.

Allein machte ich mich auf den Weg und verließ die Stadt im Morgengrauen. Drei Tage und drei Nächte wanderte ich, und alsbald kam ich vom Wege ab. Unversehens fand ich mich in einer öden Gegend, in der ich noch nie zuvor gewesen war.

Ich irrte umher und stieg immer höher und höher in die Berge hinein. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, und es gab weder Baum noch Strauch, die mir hätten Schatten spenden können. Es herrschte eine seltsame Stille, kein Laut war zu hören, kein Tier weit und breit zu sehen, außer ein paar Krähen, die über meinem Haupte kreisten. Meine Wegvorräte waren alsbald aufgezehrt und mich dürstete, doch nirgends fand ich ein Bächlein oder eine Quelle, wo ich mich hätte erquicken können.

Plötzlich war mir, als vernähme ich von ferne die süßeste Musik, wie von Lyren, Flöten und Zimbeln, und glockenhelle Stimmen wie aus hundert Kehlen. Ich glaubte zunächst, mein verwirrter Geist spiele mir einen Streich, oder — der Herr steh mir bei! — der Widersacher wolle mich ins Verderben locken.

Dennoch folgte ich dem Klang der Musik über Stock und Stein, so süß und verlockend war sie, und alsbald erblickte ich in der Ferne unter einem Felsvorsprung ein Kloster. Nie zuvor hatte ich gehört, dass hier an diesem verlassenen Ort heilige Männer lebten, und auch später wusste keiner, dem ich meine Geschichte erzählte, etwas von diesem Kloster zu berichten.

Ich schöpfte neue Hoffnung und dankte dem Herrn für seine Gnade. So näherte ich mich der Klostermauer, und die Musik und der Gesang umfingen mich wie Engelsschwingen. Als ich an das große Tor klopfte, war ich erstaunt, denn es öffnete mir kein Mönch, sondern eine Jungfrau in einem schneeweißen Kleide. »Ich bin Pinamhar«, sprach sie und hieß mich willkommen. Als ich eintrat, gewahrte ich — und ich senkte beschämt mein Haupt —, dass es in dem Kloster zahlreiche Frauen gab, und sie lebten in Gemeinschaft mit den Männern.

Man nahm mich gar freundlich auf, reichte mir Speise und Trank und führte mich alsbald in einen großen Saal. Dort sah ich, dass außer mir noch andere Wanderer an diesen Ort gelangt waren. Sie schienen aus allen Völkern der Erde zu kommen. Viele von ihnen waren matt und krank oder hatten blutende Wunden, einer lag jammernd auf einem Strohlager, ein anderer saß auf dem Boden an die Wand gelehnt und vergrub sein Antlitz in den Händen.

Es näherte sich Pinamhar, die Jungfrau in dem weißen Kleide, und ich fragte sie, was denn dies für ein seltsamer Ort sei. Sie antwortete: »Dies ist Tur-Qadash, der Berg des Heils. Diesen Ort findet nur, wer reinen Herzens ist, und wer ihn sucht, wird ihn niemals finden. Doch steht er allen offen, die Not leiden.« Die Jungfrau trug eine hölzerne Schale, alt und krumm und nicht schön anzusehen. Jedoch am Rand der Schale sah ich — und siehe! — dort standen geheimnisvolle Worte in der heiligen Sprache Adams geschrieben. Die Jungfrau schöpfte mit der Schale klares Wasser aus dem Brunnen, dann trat sie hin zu einem der Kranken, stimmte einen gar lieblichen Gesang in einer mir gänzlich unbekannten Sprache an und gab ihm aus der Schale zu trinken. Sogleich erhob sich dieser und ging kerngesund davon.

Ich wollte zuerst meinen Augen nicht trauen, dann fiel ich auf die Knie und fragte sie, ob sie die Heilige Jungfrau sei, und welch wundersames Gefäß sie da besitze. Sie antwortete: »Steh auf, frommer Mann, und versündige dich nicht. Dies ist der Kelch des Exils, das Gefäß der Macht Gottes auf Erden. Er wird seit Anbeginn bewahrt von der Gemeinschaft der Wächter.« Dann bot die Jungfrau auch mir an, aus der Schale zu trinken, allein ich wandte mich ab. Denn steht nicht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen?

Sie ließ sich neben mich auf die staubige Erde nieder und sprach: »Dein Herz ist rein und dein Geist ist wissbegierig, so will ich dir berichten vom Schicksal der Gemeinschaft von Tur-Qadash seit Anbeginn der Zeit. Höre nun, Basileios von Edessa, was ich dich lehren werde, aber verschließe es für immer in deinem Herzen.«

Jetzt, am Ende meiner Tage, da es allmählich finster wird in meiner Klause und ich schon bald in die große Leere eines schweigenden Gottes stürzen werde, finde ich im flackernden Licht der Öllampe endlich den Mut, mein Herz zu erleichtern und die Worte der Herrin von Tur-Qadash niederzuschreiben, die mein ganzes sündiges Leben lang meine Seele gequält und meinen Glauben erschüttert haben.

Also sprach Pinamhar, die Gesegnete.

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